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Die süße Quelle in Saida

Deutschland hat, laut Statistischem Bundesamt, eine Bevölkerungsdichte von 235 Einwohnern pro Quadratkilometer. In der bayerischen Landeshauptstadt, mit ihren relativ engen Stadtgrenzen, springt der Wert auf 4.282 Frauen, Männer und Kinder, die sich auf einen Quadratkilometer München verteilen. Im hoch verdichteten Stadtteil Berlin Kreuzberg zählten die Statistiker 2010 sogar 14.184 Bürger auf einem gleich großen Gebiet.

In Ein el-Hilweh leben 90.000 Menschen – auf einem Quadratkilometer Fläche und in Häusern, die nur ein paar Stockwerke hoch sind.

Ein el-Hilweh ist arabisch und bedeutet übersetzt „Süße Quelle“. Ein euphemistischer Name für diese Stadt neben der Stadt. Ein el-Hilweh liegt in der südöstlichen Peripherie der libanesischen Hafenstadt Saida (Sidon) und ist das älteste und zugleich größte Palästinenserlager in dem zerrissenen Land. Angelegt in den fünfziger Jahren, als nach der Gründung des Staates Israel zahlreiche Palästinenser aus ihren angestammten Wohngebieten flüchteten. Oder flüchten mussten. Damals wurden die Libanesen (auch mit Geld) überredet, die Flüchtlinge „vorübergehend“ aufzunehmen. Ein Teil der Einwohner lebt schon seit Jahrzehnten in dem Konglomerat, der Großteil der jüngeren Bewohner wurde in Ein el-Hilweh geboren.

Die Stadt der 90.000 begann also ganz typisch als Provisorium und wuchs – besser gesagt: wucherte – dann mehr oder weniger unkontrolliert bis zur heutigen Größe. Mit einer Zäsur: Anfang der Achtziger Jahre wurde Ein el-Hilweh im ersten Libanon-Krieg durch israelische Bombenangriffe weitgehend zerstört, es gab zahlreiche zivile Opfer. Für die Welt außerhalb dieser Region die abzuhakenden Kollateralschäden im Jahrzehnte währenden Nahostkonflikt, für die Palästinenser eine bittere Erinnerung mehr, die sich tief in das kollektive Bewusstsein eingegraben hat. Nach dem Krieg wurde die sozusagen autonome Region wieder aufgebaut und zunächst von prosyrischen Kräften kontrolliert. Später übernahmen dann Fatah-Anhänger das Regiment im Lager, natürlich nicht auf friedlichem Weg. Der ist nämlich nirgendwo vorgesehen im Nahen Osten.

Die verschiedenen Kleinkriege in der Region schwemmten seitdem immer wieder neue Flüchtlingsströme in die Palästinenserrefugien auf libanesischem Gebiet. Wobei keineswegs ausgemacht ist, dass das Lager nicht noch weiter wachsen wird: An Migranten hat es im unruhigen Nahen Osten keinen Mangel. Im Augenblick kommen viele Menschen, die nichts haben, zu denen, die in ihrer Mehrzahl wenig haben: Der Bürgerkrieg in Syrien sorgt für Nachschub, wer von den geflüchteten Syrern die nötigen Beziehungen hat, versucht an Orten wie Ein el-Hilweh unterzukommen, wo das Wohnen erheblich billiger ist als im relativ teuren Libanon. Ein Teil der Flüchtlinge aus dem Nachbarland verkriecht sich auch in den Zeltstädten, die zum Beispiel in der Bekaa-Ebene vielfach zu finden sind. Camps, in denen Menschen, manche von ihnen nomadisierende Beduinen, von denen niemand so recht weiß, wie sie ihr Überleben bewerkstelligen, unter Plastikplanen und alten Säcken hausen. Hier wie dort misstrauisch beäugt von den nervösen libanesischen Sicherheitskräften, die um ihren Job auch nicht zu beneiden sind.

Denn der Libanon ist der oft getretene Ball, mit dem viele Spieler im Nahen Osten kicken. Politik im Libanon ist in etwa so unübersichtlich wie eine Schafherde, die von einem hungrigen Wolfsrudel aufgeschreckt wird. Einflüsse von Außen bestimmen die Agenda des Landes und die Innenpolitik. Es gibt pro- und antisyrische Fraktionen, der Iran spielt ebenso mit dem Land wie die reichen Ölstaaten Arabiens und die internationalen Großmächte. Dazu kommen die Palästinenser, die zwar in ihren Siedlungen so gut es eben geht von der libanesischen Armee kontrolliert werden und sich selten einig sind, aber trotzdem einen Machtfaktor darstellen.

Der Einlass in das Palästinenserlager Ein el-Hilweh gleicht einem Spießrutenlauf. Die libanesischen Soldaten wollen den Pass sehen, verschwinden damit in einem der Unterstände, fragen zehn Mal, was man als Fremder in dieser no go area zu suchen hat – und ohne einen einflussreichen Fürsprecher, der „weit oben“ eine Genehmigung organisiert hat, käme ein Fotograf nicht durch die Sperren. Warum eigentlich? Zudem ist es ein gewisser Schutz, wenn offizielle Stellen wissen, dass man sich in das Lager begibt, auch wenn die Soldaten dort letztlich nichts zu melden haben.

Das Spiel wiederholt sich sozusagen auf der anderen Seite des massiven Postens der libanesischen Armee: Ohne einen verlässlichen und akzeptierten Fürsprecher ist es für Ausländer nicht ratsam, dort kurz entschlossen zum Sightseeing aufzutauchen, selbst wenn sie keine Kameras dabei haben. Die Wahrscheinlichkeit, dann erst einmal für längere Zeit aus dem Verkehr gezogen zu werden, von welcher Fraktion auch immer, liegt ungefähr bei einhundert Prozent.

Für einen Fremden ist es allenfalls indirekt ersichtlich, in welchen Vierteln innerhalb des Lagers man sich im Schlepptau des Führers bewegt – doch gibt es auch dort säuberlich definierte Einflusssphären, in denen inzwischen entweder die Leute der Hamas oder die Fatah-Anhänger das Sagen haben oder eine der radikalen Splittergruppen den Taktstock in Form einer Kalaschnikow schwingt. Von Zeit zu Zeit müssen die Territorien natürlich neu justiert werden, dann brennt es wieder in Ein el-Hilweh, manchmal nur Stunden lang, manchmal Tage lang.

Im Eingangsbereich eines Parkplatzes am südlichen Ende dieser unzugänglichen Parallelwelt steht ein amerikanischer Geländewagen. Die Vorderfront des schwarzen GMG, Modell Envoy, ist arg ramponiert. Doch es war kein Verkehrsunfall, dem die Schäden an dem Truck zuzuschreiben sind, sondern eine Warnung. Zwei Tage vor unserem Besuch in der Palästinensersiedlung wurde der Geländewagen sozusagen angesprengt. Der Besitzer, erzählt uns der Mann, der den Parkplatz beaufsichtigen soll, lebe in Deutschland und sei von verschiedenen Fraktionen als Vermittler akzeptiert worden – was offenbar einigen radikalen Kräften nicht ins Konzept gepasst hat. Später treffen wir den angeblichen Friedensstifter, der früher einer der Fatah-Anführer in dem Lager gewesen sein soll, zu einem kurzen Gespräch; er scheint ebenso nervös zu sein wie seine Leibwächter, die Warnung war ja deutlich genug.

Es ist schwer im Nahen Osten, den Überblick nicht zu verlieren: Der Parkplatzwächter kam zwei Monate vor dem Vorfall aus der Region Damaskus in das Palästinenserlager. Flüchtete mit seiner Familie vor dem Morden in seiner Heimat Syrien in ein vermeintlich sicheres Asyl. Seit die Bombe hochging und der Mann mit dem Sohn auf dem Parkplatz war, sitzt seine Frau krank vor Angst im Haus, das dem Palästinenser mit deutschem Pass gehört – und man möchte nicht wissen, was sie in den letzten Monaten alles erlebt hat.

90.000 Menschen auf einem Quadratkilometer Fläche: Ein el-Hilweh ist eine gigantische Presse, in der Menschen maximal verdichtet werden. Ein Chaos aus verwinkelten Gassen, in denen oft nicht einmal zwei Fußgänger nebeneinander Platz finden. Eine Stadt ohne Bürgermeister und Stadtrat, ohne funktionierende Sozialdienste und Zivilgesellschaft. Für die rudimentäre Infrastruktur – Müllabfuhr, zwei Krankenhäuser, Schulen – sorgen die Vereinten Nationen. Strom, Wasser, Elektrizität? Müssen irgendwie organisiert werden, eine verlässliche flächendeckende Versorgung gibt es nicht.

In den Häusern leben Familien oder ganze Clans unter unbeschreiblichen Verhältnissen, verdichtet eben: Zehn Leute auf 20 Quadratmetern sind eher normal als selten.

Für die Menschen, die ihr Dasein in dem Lager verbringen, ist der Alltag hart genug. Denn sie haben, wie die Libanesin Lina Zaatari, die sich in ihrer Heimatstadt Saida mit verschiedenen Hilfsprojekten engagiert, nicht müde wird zu betonen, keinerlei Bürgerrechte. Für den Staat Libanon bleiben die Bewohner des Lagers Palästinenser – auch wer im Libanon geboren wurde und schon 50 Jahre in dem Land lebt, hat keinen Anspruch auf einen libanesischen Pass. Was nicht zuletzt nahöstlicher Realpolitik geschuldet ist: Wenn die Palästinenser Libanesen werden, hätten sie zumindest formal eine neue Heimat und müssten nicht mehr auf einen eigenen Staat pochen. Oder man könnte ihnen mit einer gewissen Logik das Recht darauf absprechen. Zudem würden sich vermutlich viele aus der jüngeren Immigrantengeneration dann doch überlegen, ob sie ihre Zukunft im alten Staat Libanon, den sie immerhin kennen, oder in einem jungen, möglicherweise instabilen Palästinensterstaat suchen. Momentan dürfen Palästinenser im Libanon arbeiten, aber sie dürfen keinen Besitz haben und ihren Nachkommen keinen Besitz vererben. Wenn eine Familie genug Geld gespart hat, um sich beispielsweise ein Haus zu kaufen, funktioniert das allenfalls über vertrauenswürdige libanesische Strohmänner.

„Die libanesischen Bürger haben nichts gegen die Palästinenser, die Mehrzahl wünscht sich oder praktiziert eine friedliche Koexistenz,“ sagt Lina Zaatari. Wenn die Cohabitation, zu der sich nüchtern betrachtet im Moment keine Alternativen abzeichnen, nicht ordentlich funktioniert, liegt das nach Zataaris Überzeugung vor allem an der Politik – die klassifiziert und behandelt die Exilanten aus dem Süden nicht einmal als Bürger zweiter Klasse, sondern als weitgehend Rechtlose. Dabei, erinnert die sozial engagierte Einwohnerin von Saida ihre Landsleute, hätten die Flüchtlinge geholfen, die Hafenstadt nach dem Krieg wieder aufzubauen. Damals seien viele Hilfsgelder an die Palästinenser gegangen, deren Kaufkraft wiederum Saida zu Gute gekommen sei.

Allerdings gibt es auch andere Stimmen. Libanesen, denen es nicht passt, dass insgesamt wohl eineinhalb Millionen palästinensische Flüchtlinge Teile ihres Landes okkupieren und in den meisten Lagern ein gesetzloser Zustand herrscht – jedenfalls soweit es libanesische Gesetze betrifft. Diese Bürger sind vor allem auch wütend darüber, dass ihr fragiler Staat seit langem nolens volens als nahöstliches Auffanglager fungieren muss (beispielsweise leben seit Anfang des 20. Jahrhunderts auch bis zu zweihunderttausend aus der Türkei geflüchtete Armenier in dem Land), ohne dass die Staaten, die einen Großteil der aktuellen Probleme zu verantworten haben, sich groß um die Lösung scheren. Oder den nötigen Druck aufbauen, um einer Lösung wenigstens näher zu kommen. Übrigens: Wie viele Heimatlose im Libanon leben, weiß niemand so genau. Die letzte Volkszählung fand vor etwa achtzig Jahren statt. Ein neuer Zensus ist nicht geplant, auch das ist der Verletzlichkeit des Libanon geschuldet. Denn Politiker und Bürger wissen, dass nach einer Volkszählung das mühsam tarierte Machtgefüge im Land perdú wäre – mit unabsehbaren Folgen, vielleicht sogar für die gesamte Region.

Wenn es zwischen den verschiedenen Palästinenserfraktionen so etwas wie eine gemeinsame Klammer gibt, ist das die Sehnsucht nach der Heimat, obwohl das für viele der Einwohner von Ein el-Hilweh ein diffuser Begriff ist: Sie kennen Palästina ja nur aus den Erzählungen der Alten oder aus der Rhetorik des Widerstands. Die Moderaten unter den Flüchtlingen wünschen sich ebenso wie die Radikalen ihren eigenen Staat. Bleibt die Frage, unter welchen Vorzeichen der eines Tages mehr Realität denn Projekt werden könnte. Eine Frage, die sich vielleicht auch Politiker in den westlichen Ländern gelegentlich stellen (von denen die Palästinenser meistens wenig halten oder sich wenig erhoffen, was man ihnen kaum verdenken kann).

Einige – allerdings wenig erfreuliche – Antworten drängen sich auf, wenn man sich in Ein el-Hilweh zwischen den eng stehenden Hauswänden zum nächsten Lichtfleck hin bewegt, vorbei an Grafitti, Bannern mit dem Konterfei Arafats, verfolgt von den entschlossenen Blicken der Widerstandskämpfer, die auf hunderten Plakaten Werbung für die islamistische Resistance machen. Keine ermutigenden Aussichten – was erwarten eigentlich „unsere“ Politiker von Menschen, die Jahrzehntelang in ein Ghetto eingepfercht werden, das einer sozialen Katastrophe gleich kommt; die kaum Perspektiven haben, dieser Existenzform entfliehen zu können; die nur mit Mühe zwischen Agitprop und einigermaßen objektiver Information unterscheiden können, wenn sie das überhaupt wollen? Kinder, die in diese eingezäunte Parallelwelt hinein geboren werden, wachsen mit dem Wissen um Kampf und Krieg auf – die Floskel „mit der Muttermilch...“ wäre hier wirklich angebracht. Ihre Schlaflieder verklären den Widerstand, ihre Abzählreime handeln von Rache, und ihre Idole sind nicht Fußballstars oder Showbiz-Größen, sondern so genannte Märtyrer ihres Volkes, denen einige später all zu gerne nacheifern wollen. Zu allem Überfluss stehen große Teile der politischen Klasse nicht gerade im Ruf, in Sachen Bürgersinn Vorbildliches zu leisten.

Es gibt Millionen friedliche Muslime; wenn die lauten und radikalen unter den Jüngern Allahs über mangelnden Zulauf nicht klagen können, liegt das auch an Brutstätten wie Ein el-Hilweh: Dass aus einem Lager wie der „Süßen Quelle“ jemals Friedensangebote sprudeln werden, ist nach menschlichem Ermessen ziemlich unwahrscheinlich, es wäre ein nahöstliches Wunder.

Trotzdem gibt es Menschen, die offenbar daran glauben. Jedenfalls gibt sich Sheik Yusuf Thaibish betont friedlich. Der Würdenträger wurde auch nach Ein el-Hilweh hineingeboren, 1958 war das. Als Jugendlicher studierte er in Spanien, wollte Ingenieur werden. Doch weil sein Vater krank wurde, brach Thaibish den Europaaufenthalt ab und kehrte zurück in das Lager, in dem er zwar lebt, das ihm aber keine Heimat ist. Für ihn sind die Palästinenser nur Gäste im Libanon, „unsere Heimat ist Palästina“. Das Land, auf dem die Flüchtlinge siedeln, gehört seiner Meinung nach Allah. Für den Scheich gibt es keine Schranken zwischen den Nationen und den Religionen, er sagt, „wir sind alle gleich, wir können untereinander heiraten und uns verständigen“. Ist das nur die milde Fassade, die für den Fremden heruntergeklappt wird um ihn zu betören wie die Düfte der Gewürze im Souk nebenan, oder die wahre Überzeugung von Scheich Yusuf?

Der Nahe Osten macht dich verrückt, du willst den Menschen vertrauen – aber die blutige, verworrene, komplizierte Geschichte der Region sorgt dafür, dass Vertrauen hier allenfalls in homöopathischen Dosen zu haben ist. In dieser Ecke der Welt ist kaum etwas so, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint.

Als wir mit Ali, dem freundlichen Führer in Ein el-Hilweh, der den Großteil seiner palästinensischen Landsleute zu kennen scheint, auf dem Rückweg in den Libanon sind, erzählt Lina kopfschüttelnd eine Geschichte, die ihr am Vortag widerfahren ist. Da war sie mit einem ihrer Söhne zu einem kleinen chirurgischen Eingriff im Krankenhaus. Im Wartezimmer trafen sie und ihr Ehemann zufällig eine irakische Familie – die sich Saddam Hussein wieder zurück an die Macht wünschte: „Es ist ein Wahnsinn,“ klagt die Libanesin.

Der Grund dafür ist denkbar einfach: Den irakischen Gesprächspartnern war durchaus klar, welche Sorte Mensch der exekutierte Diktator war. Doch für das Gros der Bevölkerung in dem Ölland bedeutete die Herrschaft Saddams relative Ruhe und eine gewisse Prosperität – während der zweite Irakkrieg dort ein fürchterliches Chaos generiert hat. Vor allem die explodierende Kriminalität und die alle Bereiche des täglichen Lebens vergiftende Korruption machen vielen Menschen im Irak zu schaffen, für sie sind diese Auswüchse das üble Gesicht der Demokratie. Und dann wundert sich Europa wieder einmal, warum im nächsten Land radikale Parteien immer mehr Zulauf haben, die erst die Scharia für Diebe und bestechliche Amtsträger fordern und dann die anderen Kapitel ihrer islamistischen Agenda abarbeiten. Vielleicht so gründlich, dass der nächste Exodus vorprogrammiert ist.

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