Schicksale / Stories / PIctures

FLUCHT

Auch Zohre Esmaelis Familie floh vor den Konflikten, die ihre alte Heimat zerstören, das Land ebenso wie das soziale Gefüge. Sie hatten sogar einige Jahre lang versucht, mit den Taliban zu leben, die immer heftiger wüteten. Aber nachdem die Unsicherheit in dem Land immer größer wurde, reifte in Zohres Vater allmählich der Entschluss, aus dem Land zu flüchten. Es dauerte einige Monate, bis aus dem Gedanken ein konkreter Plan wurde. Denn die Heimat aufzugeben und aus einem kaputten, totalitär regierten Bürgerkriegsland wie
Afghanistan zu entkommen ist ja eine existenzielle Entscheidung und erfordert eine komplexe Vorbereitung, mit Menschen, denen man vertraut. Die Tochter war in die Pläne natürlich nicht eingeweiht. Die Gefahr, dass ein junges Mädchen sich verplappern und die Flucht noch vor ihrem Beginn scheitern lassen könnte, war zu groß. Weniger als 24 Stunden vor dem Aufbruch erfuhr Zohre, dass sie gemeinsam mit den Eltern ihre geschundene und doch geliebte Heimat verlassen würde. Sie hatte keine Zeit, Abschied zu nehmen. 

 

Aber an dem Tag, an dem sich Zohre Esmaelis Familie auf den Weg machte, war das Mädchen alt genug, um zu ahnen, dass die Flucht kein aufregendes Abenteuer, sondern ein lebensgefährliches Unterfangen werden würde. Auf der monatelangen Reise nach Europa erlebte die 14-Jährige all das, was die meisten Menschen nur aus Medienberichten kennen. Wer vergleichbare Erfahrungen nicht gemacht hat, kann also kaum nachvollziehen, was es für eine pubertierende, traditionell erzogene Afghanin bedeutet, plötzlich keine Privatsphäre mehr zu haben – auch wenn sie damals nur instinktiv wußte, was und wie wichtig das ist. Mit achtzehn anderen Flüchtlingen aus vier Familien einen Monat lang in einem fünfzehn Quadratmeter großen Zimmer leben zu müssen, in dem tagsüber die Vorhänge bis auf einen schmalen Spalt zugezogen sind. Eine Relaisstation auf dem langen Weg nach Westen, die schon nach kurzer Zeit keine Zuflucht mehr ist: Die Wände rücken jeden Tag enger zusammen, das Versteck wird zum Gefängnis, das untertags niemand verlassen darf. 

Was passiert mit einem jungen Menschen, wenn die soziale Kontrolle plötzlich nicht mehr funktioniert und es immer einen Voyeur gibt, der die Schamgrenze der Frauen unter dem Vorwand, auf sie „aufzupassen“, missachtet, während sie in der Dämmerung auf einer primitiven Toilette im Garten ihre Notdurft verrichten? 

 

Das Protokoll der Ereignisse auf der langen Reise in ein Land, von dem sie selbst nicht einmal eine ungefähre Vorstellung hatte, ist ein Tattoo, das in die Seele einer unbeschwerten jungen Frau gestochen wurde. In wenigen Monaten wurde sie um Jahre reifer. Auch mit über zehn Jahren Abstand und reichlich Ablenkung durch einen aufregenden Job erinnert sich Zohre an viele Details. Die Angst, die Verzweiflung, die Einsamkeit und manchmal Hoffnungslosigkeit der Migranten: Das sind die Bilder hinter den Bildern und die Emotionen, die trotz der erfolgreichen Modelkarriere noch täglich präsent sind. 

 

back