Es ist ein Schattenheer, das sich in Patras breit gemacht hat. Eine Armee ohne Waffen, mit Kriegern, die im Kampf nur ihren Körper einsetzen können. Mit Soldaten, die überaus höflich sind. Denn sie wissen: Wenn sie Ärger machen und die Einheimischen gegen sich aufbringen, werden sie schnell geschlagen. Dezimiert sind sie ohnehin schon, vor einigen Jahren noch waren die Immigranten aus aller Herren Länder allgegenwärtig in der griechischen Hafenstadt.
Doch jetzt hat mein Kollege Vassilis Daramouskas, der in Patras lebt, Sorge, ob wir überhaupt eine der versprengten Gruppen auftreiben würden, um mit den Menschen zu reden und ein paar Bilder schießen zu können. Was auch daran liegt, dass Griechenland jüngst ins Visier der Euro-Partner geraten ist. Weil in dem Land mindestens eine Million illegale Einwanderer lebt, drohten die Europäer, Griechland das Schengen-Aufkommen aufzukündigen, mit dem die Grenzkontrollen abgeschafft wurden. Seitdem die Drohung im Raum steht, macht die griechische Polizei verstärkt Jagd auf Ausländer und sammelte im Frühjahr 2012 bei Razzien mühelos einige Tausend Illegale ein.
Vassilis’ Sorge stellt sich rasch als unbegründet heraus. In der Hafengegend treffen wir auf einen Pulk von Flüchtlingen, die nach eigener Aussage aus Afghanistan kommen. Später fahren wir in eine Industriebrache und werden uns dort mit Schwarzafrikanern unterhalten. Die „leben“ auf einem aufgelassenen Firmengelände, das zugleich ein Symbol für die Agonie der griechischen Ökonomie ist. Über Siebentausend Menschen arbeiteten einst bei dem Tuchhersteller Piereiki. Von der Fabrik ist nur noch das Skelett übrig, verrostete Zäune, fensterlose Gebäude, eine Reling um das Flachdach, auf der einige Decken und einfache Schlafsäcke in der Sonne trocknen. Einige der Afrikaner spielen Volleyball auf dem Hof, eine größere Gruppe hockt auf der anderen Seite des Zauns auf den Gleisen einer Eisenbahn, die schon lange nicht mehr fährt.
Die Sudanesen – die landsmannschaftliche Zuordnung basiert wiederum auf den Angaben der Migranten – haben es, wie der Rest des Flüchtlingsheers auch, auf Trucker abgesehen, die auf eine der Fähren nach Italien müssen. Sie wissen genau, an welchen Kreuzungen oder Einmündungen die Trucks langsam fahren, an welchen Ampeln sie vielleicht anhalten müssen – dann rennen regelmäßig Dutzende der dunklen Gestalten los, verfolgen die Lastwagen, öffnen die Türen zum Laderaum oder versuchen, sich schnell irgendwo im Chassis zu verstecken, um als blinde Passagiere auf die Fähren zu gelangen. Ein Katz- und Maus-Spiel, das einige schon monate- oder sogar jahrelang betreiben. Die Chancen stehen schlecht für die Flüchtlinge, manchmal steigen die erbosten Fahrer aus und versuchen, die ungebetenen Fahrgäste zu verscheuchen. Aber es muss nicht einmal ein Gigaliner sein, um den Immigranten dadurch nur neue Möglichkeiten zu eröffnen. Wer hat schon seinen Auflieger rundum im Blickfeld?
Vor einigen Jahren, berichtet Vassilis, seien manche Trucker sogar rückwärts gegen andere Lastwagen gefahren, um die Menschentrauben am Heck los zu werden. Wie viele der Flüchtlinge den verzweifelten Versuch, in eines der gelobten Länder zu gelangen, mit dem Leben bezahlen, weiß niemand. Besser gesagt: niemand will es wissen.
Für die Fernfahrer stellen die blinden Passagiere ein großes Problem dar. Denn wenn ein Trucker in Italien (oder am Ärmelkanal in England beziehungsweise Frankreich, wo das Problem ebenso virulent ist) mit einem der Ausländer an Bord erwischt wird, geht die Polizei grundsätzlich von einer Mitwisserschaft aus – das Fahrzeug wird erst einmal konfisziert und die Chauffeure können froh sein, wenn sie nicht zusammen mit den Flüchtlingen eingesperrt werden.
Deshalb ist es umso erstaunlicher, dass es offenbar Fahrer gibt, die trotzdem ein gewisses Verständnis für die verzweifelte Situation vieler Flüchtlinge aufbringen, die ja nicht aus Spaß aus ihrer Heimat fliehen und dabei ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben riskieren. Es ist der zutiefst humane Wunsch nach einer besseren Zukunft, der die Menschen aus den Flüchtlingslagern und Elendsquartieren in den Krisengebieten der Welt in das wohlhabende Europa treibt, das für viele der Vorstellung vom Paradies recht nahe kommt.
Axel Silgmann ist so ein Fahrer, der nicht nur schimpft, sondern nachdenkt. Beim genaueren Blick auf den Sattelzug von Silgmann sieht es so aus, als würde ein Gespräch über blinde Passagiere mit ihm nicht sonderlich ergiebig. Der Deutsche fährt einen Actros 1848 mit offenem Tieflader, auf dem eine ansehnliche Segelyacht vertäut ist. Zwanzig Mal im Jahr kommt Silgmann nach Griechenland, die Boote werden in Deutschland gebaut für griechische Kunden – anscheinend gibt es in dem krisengeschüttelten Land doch noch einige Bürger mit gut gefülltem Portemonnaie. Ein Wintergeschäft, diese Tour kurz vor Ostern wird für Axel die letzte der Saison sein.
Doch der Tieflader, auf dem sich in der Tat kaum ein Flüchtling verstecken kann, ist ja nur ein Teil des Sattelzugs. „Da gibt es die irrsten Geschichten,“ schmunzelt Silgmann – und erzählt gleich zwei seiner Erlebnisse mit den Illegalen Einwanderern. „Vor ein paar Jahren, das war noch im alten Hafen von Piräus, hab’ ich meinen Zug geparkt und bin einmal um den Auflieger gegangen, um die Spanngurte zu kontrollieren. Da habe ich zufällig gesehen, wie sich unter meiner Zugmaschine ein Kanaldeckel hob und zur Seite geschoben wurde, da kamen dann drei Flüchtlinge zum Vorschein und verschwanden in der Dunkelheit.“ Bei seiner zweiten Begegnung sass der deutsche Yacht-Trucker auf einem Schwarzafrikaner – natürlich ohne das zu ahnen: „Da war ich mit der Fähre schon zurück in Italien und machte hinter Ancona eine kurze Pause. Als ich von der Toilette kam und zurück zu meinem Zug ging, sah ich, wie ein Mensch aus dem Motortunnel kroch. Bis ich am Lkw war, war der schon über alle Berge, der lief über die Felder davon.“
Wie gesagt – der umgängliche Silgmann ist einer von den Nachdenklichen. Er glaubt, dass das Problem Griechenland überfordert: „Wie soll ein zerfallender Staat damit fertig werden?“ In der Tat scheint es so, als würden die anderen Europäer das krisengeschüttelte Land – und damit auch die nervösen Fernfahrer – mit dem Problem weitgehend allein lassen. Auf der einen Seite wird ein Staat, der de facto ruiniert ist, kaum in der Lage sein, knapp 14.000 Kilometer Meeresküsten effektiv zu überwachen. Auf der anderen Seite organisieren hoch profitable mafiöse Organisationen das Milliardengeschäft des Menschenschmuggels. An der Grenze zur Türkei entstehen derzeit immerhin Sperranlagen, die an die berüchtigte Grenze zwischen Mexiko und den USA erinnern. Doch wer verzweifelt genug ist, sein Leben aufs Spiel zu setzen, um im Motortunnel eines Mercedes Actros von Griechenland nach Italien zu gelangen, wird auch Möglichkeiten finden, den Grenzwall zu umgehen. Und wenn es Jahre dauern sollte. Die meisten Flüchtlinge besitzen zwar wenig mehr als das, was sie auf dem Leib tragen. Aber sie haben Zeit. Im Überfluss.