Schicksale / Stories / PIctures

ANGEKOMMEN: NEUE HEIMAT

Wer bei „Mama“ Hiller landet, ist erst einmal angekommen. Dabei ist die Wirtin im Brandner Hof keine, die vor der Realität die Augen verschließen würde. Die engagierte Frau aus Mittelfranken weiß genau, dass es unter ihren neuen Gästen etliche gibt, für die man nur schwer Sympathie aufbringen kann. Aber Marion Hiller ist auch eine Frau mit viel Lebenserfahrung und dem Willen, auf den Einzelfall zu schauen. Eine Praktikerin, die in den vergangenen Jahren viel gelernt hat über das Leben und Sterben in Afrika (sie nimmt nur afrikanische Flüchtlinge auf), über Paragraphen und Verwaltungsvorschriften, über das richtige Formulieren eines Einspruchs, über Schicksale, die sich kaum erzählen lassen, und über den Umgang unseres trotz aller Probleme reichen Landes mit Asylsuchenden. An dem hat sie inzwischen einiges auszusetzen.

Was bei vielen Deutschen erst einmal einen Abwehrreflex auslösen dürfte. Doch die Pächterin der Dorfwirtschaft in Brand gehört nicht zu den sentimentalen Gutmenschen, die flächendeckend mehr Geld und einen großzügigeren Umgang mit den Migranten fordern und das für einen guten Lösungsansatz halten. Was sie zu sagen hat, klingt vernünftig. Es sind die Ansichten einer engagierten Frau, die die ihr anvertrauten Menschen nicht auf Zahlen und Bürokratie reduziert, sondern um die Seele ihrer „Kunden“ kämpft. 

 

Als im Herbst 2010 der Bus mit der ersten Flüchtlingsgruppe ankam, die im Brandner Hof untergebracht werden sollte, wurde der Wirtin binnen Stunden klar, dass sie sich keine leichte Aufgabe ins Haus geholt hatte: „Das waren Somalier, denen ich ein Mittagessen kochte. Aber keiner kam – es war der erste Tag des Fastenmonats Ramadan.“ In dem Fall kein Problem, das Essen ließ sich nach Einbruch der Dunkelheit aufwärmen. Und für Hiller kein grundsätzliches Problem, denn sie respektiert die kulturellen Unterschiede, den Glauben oder die Eigenheiten ihrer neuen Gäste. Von denen erwartet sie im Gegenzug Ehrlichkeit (vor allem wenn sie helfen soll), Pünktlichkeit und die Bereitschaft, die Traditionen einer Männergesellschaft zumindest teilweise aufzugeben: Gepampert werden die Afrikaner nicht im Brandner Hof. 

 

Inzwischen kann Hiller stundenlang über das erzählen, was sie seitdem erlebt hat. Sie denkt dabei oft an ihre eigenen minderjährigen Kinder und zeigt auf die Wand, an der ein alter Regulator hängt. Inzwischen tickt er nur noch, seit sich einer der afrikanischen Gäste jedesmal verzweifelt die Ohren zuhielt, wenn die Uhr die Stunde schlug: Kadye, ein ehemaliger Kindersoldat, der mit dem Erlebten nicht fertig wird. Inzwischen lebt der Flüchtling in Frankreich und meldet sich gelegentlich via Facebook bei seiner „Mama“ in Brand. Wenn Traumatisierte wie Adam oder Kadye wieder ausrasten oder gar in eine illegale Karriere abgleiten – sei es zufällig oder weil sie leicht verführbare Beute sind, aus Langeweile, möglicherweise auch, um sich das Geld für den nächsten Suff zu besorgen –,  ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das kostspieliger wird als eine frühzeitige Betreuung. 

Irgendwann hat ihr einer der Afrikaner gesagt, sie könne nicht die Mama von 26 Asylsuchenden sein, es wäre einfach zu viel. „Aber viele von denen brauchen doch eine Mutter, die ihnen die Angst nimmt“, sagt Marion Hiller fast beschwörend. Die Angst vor dem fremden, leeren Dorf, vor der Abschiebung, vor der ungewissen Zukunft. Und die fürchterliche Angst vor den quälenden Erinnerungen.