Schicksale / Stories / PIctures

ZOHRE ESCAPED - DAS PROJEKT

Passenderweise steht auch am Anfang dieser Geschichte ein Schwarz-Weiß-Bild. Stundenlang suchte ich im Internet nach einem geeigneten Gesicht für eine Auftragsarbeit. Ein Model, dessen Äußeres mit dem der schon ausgesuchten Kolleginnen kontrastierte. Es war ein eher unspektakuläres, halb verschattetes Bild auf den Internetseiten des Stuttgarter Künstlerdiensts, das mich geradezu ansprang – dieses irgendwie exotische Gesicht mit den dunklen Augen wollte ich unbedingt für die Produktion eines ambitionierten Kalenders mit dem Thema „Märchen und Mythen“ gewinnen. Mein Mut sank, als ich den dazugehörigen Namen, wie heutzutage üblich, in die Suchmaschine eingab – und mit Ergebnissen und Schlagworten geradezu überschüttet wurde.

Zohre Esmaili, New York, Paris, aus Afghanistan stammend, international gefragt und gebucht, dazu ein beachtliches Portfolio an stylishen Bildern – ob ein Profimodel, das auf diesem Level unterwegs ist, mit einem Fotografen zusammenarbeiten würde, der aus einer ganz anderen Ecke kommt, mit der Glamourwelt der Modeszene wenn überhaupt nur am Rande zu tun hat, und dessen Ressourcen einigermaßen begrenzt sind?

Erfreulicherweise (für mich und den Kunden, in dessen Auftrag der Kalender entstand) nahm Zohre den Job an. Und schon bei unserem zweiten Telefonat sagte sie: „Hey, du warst ja schon in meiner Heimat.“ Ja, ich war einmal in Afghanistan, das hatte der Reporter vermutlich den meisten Modefotografen voraus. Vielleicht war es diese besondere Verbindung, die die Arbeit mit Zohre vom ersten Moment an erfreulich angenehm machte: Models sagt man ja gerne nach, sie seien kapriziös und zickig. Nicht so die Schönheit aus Afghanistan, die eine unglaublich professionelle Berufsauffassung hat, unkompliziert ist – und richtig gut. Vor allem faszinierte mich Zohres schauspielerisches Talent. Du schaust traurig, du bist ängstlich, du schaust gelangweilt, jetzt fühlst du dich überlegen, weil du weißt, dass du gewinnen wirst – sie ist überdurchschnittlich vielseitig und kann das alles scheinbar mühelos aus ihrem Repertoire abrufen.

Abends, nach stundenlanger intensiver Arbeit in der frühlingshaften Provence, plauderten wir über Afghanistan. Zunächst zögerlich erzählte Zohre immer wieder von ihrer abenteuerlichen Flucht, den Monaten, die das Leben der afghanischen Frau in zwei Kapitel teilen sollten, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Davor und Danach. Davor, das sind vierzehn Jahre Heimat und Aufwachsen in einer traditionellen afghanischen Familie. Kindheit und Jugend unter dem Kopftuch, wenn man so will. Danach, das ist die unglaubliche Aschenputtelstory von der hübschen Emigrantin, die nach einigen Jahren in Deutschland zufällig von einem Fotografen entdeckt wird und dann eine Karriere startet, die sie schließlich als gut gebuchtes Model um die ganze Welt führt. Die Flucht der Familie aus Afghanistan ist eine Geschichte, die wir Mitteleuropäer normalerweise nur aus Medienberichten kennen. Schon auf der Heimreise von Frankreich hatte ich die vage Idee, diesen Teil von Zohres Vita sozusagen nachzuerzählen. Eine Bildserie zu erarbeiten, in der einige besonders prägnante Episoden noch einmal visualisiert werden. Eine Geschichte, die der Nukleus zu einem breiter angelegten Projekt sein könnte, das sich mit dem unerschöpflichen und immer aktuellen Themenkreis Flucht, Vertreibung, Migration und Neubeginn im Exil beschäftigt.

 

Aber darf man das? Eine Flucht, die für viele der Beteiligten mit etwas weniger Glück hätte tödlich enden können, in ästhetisierenden Fotos nacherzählen? Denn fraglos wirkt ein professionelles Model wie Zohre auch ohne Make up und in unprätentiösen Klamotten irgendwie schön und ätherisch. Im Film ist dergleichen längst üblich, doch die bewegten Bilder eines Dokumentarfilms haben eine andere Aussagekraft, eine anderes Tempo und eine andere Textur als ein unbewegtes Foto, das einen bestimmten Augenblick einfriert – der Rest der Geschichte entsteht im besten Fall hinter der Netzhaut.

 

Letztlich bleibt das Urteil, ob man das darf oder eben nicht, dem Betrachter überlassen. Ich habe mich dafür entschieden, das Projekt zu realisieren. Gemeinsam mit Zohre – es ist ja immer noch ihre Geschichte, die da erzählt wird, nicht meine. Nicht zuletzt aus diesem Grund: Oft sind die Bilder, die wir tagtäglich in den Medien zu Gesicht bekommen, nur schwer zu ertragen. Vielleicht, so die Überlegung, könnten Fotos, die sicher nicht schockieren, dazu beitragen, die Betrachter eher zum Nachdenken anzuregen.

 

Denn darum geht es: Nachdenken. Keine Frage, die Problematik der in diesem Projekt angeschnittenen Themenkreise beschäftigt die Menschheit, seit es sie gibt. Die Vielzahl kurzfristig aufflammender oder jahrzehntelang virulenter Konflikte macht die Lösung nicht einfacher. Um es klar zu sagen: Es geht nicht um die illusorische Vorstellung, dass Deutschland (oder die reichen Länder Europas) alle Flüchtlinge und Migranten dieser Welt mit offenen Armen empfangen sollte. Aber als Journalist verblüfft mich immer wieder die Ignoranz – oder das Nicht-Wissen – mit dem große Teile der Öffentlichkeit und vor allem auch Politiker das Thema diskutieren. Niemand bezweifelt ernsthaft, dass viele Flüchtlingsströme zum Teil völlig irrationalen und „überflüssigen“ Konflikten geschuldet sind, die ganz ohne „unser“ Zutun entstehen beziehungsweise eskalieren.

Doch viele der Migranten, die irgendwann an die massiven Pforten Europas klopfen, haben wir uns selbst zuzuschreiben. Vor einigen Jahren war im Magazin der Süddeutschen Zeitung eine interessante Geschichte zu lesen, in der es genau um dieses Thema ging. Weit weg von den immer wieder diskutierten Waffenexporten und Interessensphären, in denen der Freiheitskämpfer der einen Seite der Terrorist der anderen ist. Es geht um Migranten, die sich letztlich aus purer Not auf die Reise in ein neues Leben machen. An zwei der dort erwähnten Fallbeispiele, beide in Nordwestafrika, erinnere ich mich besonders gut, weil ich die betreffenden Länder schon bereist habe. Im Senegal wurde damals Tausenden von Bauern die Erwerbsquelle zerstört, weil die EU ihren Überschuss an Tomatenmark zu Ramschpreisen, gegen die die einheimischen Tomaten-Bauern chancenlos waren, in dem afrikanischen Land auf den Markt warf. Etwas weiter im Norden, in Mauretanien, wurde der Job der Fischer immer gefährlicher, die Erträge immer geringer, weil die Regierung des bitterarmen Staats die Fangrechte für die Fischgründe in ihrem Hoheitsgebiet an die aberwitzig hochgerüsteten Flotten europäischer Fischereinationen verschleudert hatte, die sich um Ökologie, Nachhaltigkeit oder das Wohl der  dort lebenden Menschen einen Dreck scheren – und wir wundern uns, wenn regelmäßig Boote voller Schwarzafrikaner in Lampedusa an Land gespült werden? Ein gutes Geschäft für die bestens organisierten und reichen Schleuserbanden, die sich über mangelnde Nachfrage nicht beklagen können. Denen zum Beispiel im Südosten der EU ein bankrotter Staat gegenüber steht, der die Bewachung von 13.000 Kilometer Grenze organisieren soll und von den europäischen „Freunden“ zu mehr Wachsamkeit gegenüber den Migrantenströmen angetrieben wird. Wie soll das zusammen gehen?

 

Und wir wundern uns, wenn aus dem Nahen Osten immer neue Hiobsbotschaften kommen? Wer das palästinensische Flüchtlingslager Ein el-Hilweh einmal aus der Nähe gesehen hat, dürfte kaum mehr daran glauben, dass in dieser Krisenregion jemals auch nur die vage Idee der Anbahnung einer friedlichen Lösung eine Chance haben wird. Zumal die europäische Politik aus Sicht der Bewohner, um es vorsichtig auszudrücken, unsymmetrisch agiert. "Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!" wäre ein passendes Motto, das an den stark bewachten Eingängen zu diesem Inferno plakatiert werden sollte. Das als Provisorium geschaffen wurde – und seit fast sechzig Jahren provisorisch vor sich hin wuchert. Unkontrolliert, umkämpft, bevölkert von Menschen, deren wichtigste  Perspektive der Hass ist. Wenn sie keine andere haben, liegt das zu einem beträchtlichen Teil auch an „uns“.

 

Doch es gibt Hoffnung, immer wieder. Menschen wie Zohre, die es geschafft haben, Krieg und wirtschaftlichem Elend zu entkommen und sich ein neues Leben aufzubauen. Manche mit einer unglaublichen Zähigkeit. Manche von ihnen gebrochen vom Krieg, unerzählbaren Erlebnissen oder jahrelangen Schikanen autoritärer Regime. Viele voller Optimismus – und Dankbarkeit gegenüber ihrer neuen Heimat. Auch von Ihnen berichtet dieses Projekt.

back